Sehr geehrter Herr Kufen,
als ProAsyl/Flüchtlingsrat Essen e.V. treibt uns seit langem die Situation der Asylsuchenden und Geflüchtete in den Essener Gemeinschaftsunterkünften um. Das Leben in den isolierten Gemeinschaftsunterkünften kann für die Betroffenen sehr belastend sein. Eine dezentrale Unterbringung wirkt hingegen nicht nur einer Stigmatisierung entgegen, sondern ist auch integrationspolitisch sinnvoll.
In der aktuellen Situation kommt noch eine konkrete Gesundheitsgefährdung hinzu. Bereits 2017 hat das Robert-Koch-Institut (RKI) in einem Bericht darauf hingewiesen, dass Asylsuchende aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen während der Flucht, eines möglicherweise unvollständigen Impfschutzes, der teils höheren Prävalenzen in den Herkunftsländern und infolge des räumlich beengten Aufenthaltes in Massenunterkünften besonders vulnerabel für Infektionskrankheiten sind. Hier zeigt sich, dass es ein Fehler war, in Essen die Unterbringung von Geflüchteten von vielen kleinen Einrichtungen mit separaten Wohneinheiten auf wenige große Gemeinschaftsunterkünfte zu zentralisieren.
Durch die Unterbringung in beengten Verhältnissen, Mehrbettzimmern und die gemeinschaftliche Nutzung von Küchen, Kantinen und Sanitäranlagen können insbesondere Abstandsgebote und Kontaktauflagen, wie sie die Coronaschutzverordnung (CoronaSchVO) NRW vorgibt, kaum eingehalten werden. Eine aktuelle Studie der Universität Bielefeld zu COVID-19 in Gemeinschaftsunterkünften belegt, dass das Übertragungsrisiko einer Virusinfektion enorm hoch ist. Die vielen Meldungen über die Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünften für Geflüchtete in NRW und deutschlandweit zeigen, dass es sich dabei nicht nur um ein theoretisches Risiko handelt.
In seinen Handlungsempfehlungen vom 07. Mai 2020 formuliert das RKI ausdrücklich, dass die gesetzlichen Kontaktbeschränkungen des Bundes und der Landesregierungen in allen Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete umsetzbar sein müssen.
Das gilt auch für kommunale Einrichtungen, ansonsten sind diese Unterkünfte als potentielle Hotspots eine Gefährdung nicht nur für alle Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen, sondern für den gesamten Plan zur Eindämmung der Pandemie. Als Präventionsmaßnahme empfiehlt das RKI daher u. a. die Reduzierung der Belegung von Unterkünften und/oder die Nutzung weiterer Unterkünfte wie Wohnungen oder Hotels, insbesondere für Angehörige der Risikogruppe. Familien und Paare könnten weiterhin in einem Zimmer untergebracht werden, für andere Personen sollte eine Einzelzimmerunterbringung angestrebt werden. Als ProAsyl/Flüchtlingsrat Essen e.V. sehen wir vor diesem Hintergrund akuten Handlungs- und Schutzbedarf!
Wir appellieren daher an Sie:
- insbesondere Gemeinschaftsunterkünfte ohne abgeschlossene Wohneinheiten, d.h. mit eigener Küche und Bad, aufzugeben. Wo dies kurzfristig nicht möglich ist:
- die Belegungsdichte in den Gemeinschaftsunterkünften deutlich zu reduzieren, d. h. Personen in Einzel- bzw. Familienzimmern unterzubringen; dafür ggf. freie Bereiche in bestehenden Unterkünften zu nutzen und weitere Kapazitäten durch Anmietung von Wohnungen und ggf. von Hotels und Jugendherbergen zu schaffen;
- insbesondere Angehörige der vom RKI definierten Risikogruppen sowie vulnerable Personen sofort in Wohnungen bzw. abgeschlossenen Wohneinheiten unterzubringen und
- langfristig in Zusammenarbeit auch mit Beratungsorganisationen ein Konzept zu entwickeln, das verbindliche Qualitätsstandards für die Unterbringung von Geflüchteten mit bevorzugt dezentraler Unterbringung in Privatwohnungen vorsieht. Unabhängig von der Bleibeperspektive muss jede/r Asylsuchende das Recht auf eine eigene Wohnung haben. Niemandem darf der Auszug aus den Übergangswohnheimen verboten werden. Vor diesem Hintergrund sehen wir die Stadtspitze in der Pflicht auf die Wohnungsgesellschaften zuzugehen, um bestehende, künstliche Zugangsbarrieren (z.B. die Vorlage eines mindestens dreijährigen Aufenthaltes in Deutschland) abzubauen.
Wir sind sehr daran interessiert im Dialog mit Ihnen und den zuständigen Behörden unseren Standpunkt näher zu erläutern und mit Ihnen nach umsetzbaren Lösungen zu suchen. Darum bitten wir um einen baldigen Gesprächstermin.
Zudem möchten wir Sie bitten den offenen Brief an den Integrationsrat, den Ausschuss für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Integration (ASAGI) sowie die Ratsfraktionen weiterzuleiten.
Mit freundlichen Grüßen
Inka Jatta (Geschäftsführung)
Der offene Brief kann hier als PDF-Datei heteruntergeladen werden.